Es zeigt sich einmal mehr: Wer die Gegenwart verstehen möchte, sollte eher in die frühe Neuzeit schauen, als in die jüngere Vergangenheit, in der der Wille nach Modernisierung und der Glaube daran, dass sich die Menschheit mittels Wissenschaft und Technik „entwickeln“ würde halbwegs intakt war. Dass die Seifenblase als Vanitas-Symbol im 16. Jahrhundert reüssierte, in einer Zeit, in der die Vergänglichkeit und Bedrohtheit des Lebens durch Kriege und Seuchen eine Kunst entstehen ließ, die wir heute Barock nennen und in der sich Fülle und Leere, Leben und Tod unauflöslich ineinander falteten, ist die erste Parallele: Heute wie damals dominiert eine Empfindung der Bedrohtheit des Lebens; waren es im Barock (gottgesandte) Katastrophen, sind es heute ökologische, und andere systemische Bedrohungen, die uns tagtäglich vor Augen führen, wie wackelig Lebensbedingungen sind. Ein zweiter Faktor hängt mit diesem zusammen und auch er hat ein vorauslaufendes Echo im 16. Jahrhundert: Mit der Eroberung Amerikas und der zweifachen Schließung eines Weltmarktes im Silberhandel mit China und dem transatlantischen Sklavenhandel mit Afrika wurde die Welt global. Als Effekt dieser Ersten Globalisierung ergab sich ein Netzwerk ungleich verteilter Chancen und Risiken, das tendenziell alle Erdenbewohner – die meisten unfreiwillig – interdependent machte. Seither leben wir auf einer Erde, die sich gerundet hat. Dass diese „Whole Earth“ einer Seifenblase gleich im Weltraum schwebt und als Ökosystem genauso gefährdet ist, wie das individuelle Leben, sind Wissensbestände und Ahnungen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert haben.

Paul Simons Song „Boy in the Bubble“ erschien auf dem Album Graceland. Die Musik des Albums gilt als Weltmusik, weil sich westliche Folktradition mit afrikanischen Elementen verbindet. Globaler Pop sorgt sich hier um die Erde als ganze. Was sich aber seit dem Barock geändert hat, sind die technischen Bedingungen der Verletzlichkeit: Im 16. Jahrhundert war irdische Endlichkeit das notwendige Gegenstück zur göttlichen Unendlichkeit, eine Gnade, eine Fristverlängerung, das Leben als anmutige und vergängliche Pirouette auf dem Parkett der Ewigkeit. Graceland. Im 20. und 21. Jahrhundert ist das Lebendige angedockt an jene technischen Systemen, über die Paul Simon singt: Babys mit Affenherzen, Laser im Dschungel, die Staccato-Signale konstanter Information; im Video drehen sich Teleskope, Fernseher flimmern, Zeitungsseiten schwimmen ins Bild. Es sind Medienumwelten und technowissenschaftliche Environments, in denen wir alle schwimmen; gerade letztere haben paradoxe Effekte. Die Lebenswissenschaften sind angetreten, um das Leben besser zu verstehen und unter dem Signum der Gesundheit zu befördern. Und in der Tat leben die Menschen des 21. Jahrhunderts länger und weniger krankheitsgeplagt als in früheren Zeiten. Gleichzeitig ist das Leben bedrohter und rätselhafter geworden als je zuvor, da die technischen Systeme, die es erhalten, zur Selbstverschließung neigen und selbst für Spezialisten undurchschaubar sind: Medizin ist Magie und Magie ist Kunst.

Verena Friedrichs Arbeit „The Long Now“ setzt an der Nahtstelle von Technik und Magie an. Schillernde Seifenblasen und Regenbögen galten – ebenfalls im Barock – als Wunder. Und es ist die Erforschung der Wunder der Natur, die am Anfang der Wissenschaft steht. Erforschung der Natur meint seit Francis Bacon: Methodisch vorgehende Beobachtung, fast immer mit Hilfe technischer Geräte, in Labors, mit Hilfe von Aufzeichnungs- und Visualisierungsmedien. Die Erforschung des Lebendigen stellte für das empirische Vorgehen lange ein Problem dar, da lebendige Prozesse sich als zu fragil, als zeitlich zu komplex und als zu kontextabhängig erwiesen, um in Versuchsreihen verlässlich beobachtbar zu sein. Das Lebendige wurde deshalb zumeist in toter Form erforscht: Durch Sezieren und Kartieren leblosen Materials. „The Long Now“ holt das Staunen zurück in das kühle Setting einer Laborsituation: Die Umwelt für diese grazil schwebende Seifenblase muss möglichst präzise überwacht werden, diesem Milieu muss gewissermaßen seine Lebendigkeit ausgetrieben werden, damit das preziose Individuum am Leben erhalten werden kann. Die Kunstfertigkeit der Herstellung des Milieus ermöglicht das Mirakel der auf Dauer gestellten Blase. Dass sie am Ende ein Häutchen zurücklässt gemahnt außerdem an eine der ältesten Naturphilosophien des Abendlandes: An Lukrez’ Lehrgedicht De rerum natura aus dem 1. Jahrhundert vor Christus. Er war der Ansicht, dass alle Dinge ihre eigene Sichtbarkeit erzeugen, indem sie ständig feine Schichten ihrer äußeren Hülle in den Raum aussenden, die Abdrücke auf der Netzhaut hinterlassen. Sein Name dafür ist: Simulacrum. Insofern ist Verena Friedrichs Arbeit auch eine über die Materialität des Sehens und der Bilder.

Auch wenn „The Long Now“ eine Zeitmaschine ist, die in die Geschichte des Wissens und Wahrnehmens hineinführt, spricht die Arbeit über Gegenwartssorgen, über moderne Sorgen um das Leben. So lagern die industrialisierten Gesellschaften Gesundheitsrisiken und Tod in jene Gegenden aus, die sie als Peripherie wahrnehmen. Nur, wo wäre die Peripherie auf einer Kugel? Die Arbeiterinnen in Bangladesch und Südchina leben in der gleichen Bubble wie wir.
Vielleicht müssen wir vom Staunen über die Verletzlichkeit des Lebens dazu übergehen, das Prekäre als Grundbedingung eines Zusammenlebens in globalen Asymmetrien anzuerkennen. Die kunstvoll gebaute Maschine von Verena Friedrich, in der einer einzigen Seifenblase alle Aufmerksamkeit geschenkt wird, macht umso deutlicher: Wir werden keine – politischen oder technischen – Apparate bauen können, die das globale Unverhältnis stabilisieren können. In einem derartigen Ungleichverhältnis gibt es keine Sorge um das Einzelne, das Wertvolle. Alles Phantasieren von Resilienz (technisch übersetzt: Rückfederung), von Belastbarkeit und Ausfallsicherheit scheint mir mit Blick auf die reale Unausgewogenheit der Verhältnisse als Zynismus. Eine Seifenblase hat eben keine Rückfederung. Nach Abschaffung des göttlichen Heilsplans, auch von dessen Verlängerung im Fortschrittsparadigma, müssen wir wohl Gnade neu definieren: Ein letzter Aufschub, der einen Moment des Innehaltens gewährt um die Universalität der Verletzlichkeit zuallererst denkbar zu machen.